Asers Weg zurück ins Leben

Asers Weg zurück ins Leben


Weihnachtsreportage 2023

Fotos: © Meinrad Schade

Ein palästinensischer Junge aus Bethlehem leidet an schwerstem Asthma. Sein Glück im Unglück: Der Kleine kommt ins Kinderspital Bethlehem, das ihn aus akuter Lebensgefahr rettet und mit der nötigen Langzeittherapie versorgt. Eine Reportage aus Bethlehem von Inge Günther.

Asers eben noch fröhliches Gesicht verzieht sich zu einem Anblick des Jammers. Menschen in Ärztekitteln sind dem Zweijährigen zunächst suspekt. Schon aus Angst, wieder mal gepiesackt zu werden. Wie soll man in seinem Alter auch verstehen, dass die alle vier Wochen verabreichte Spritze für ihn lebensnotwendig ist?

Der chronisch asthmakranke Bub gehört zu den Stammgästen im einzigen Kinderspital im Westjordanland. Viele hier begrüssen ihn mit grossem Hallo, wenn er allmonatlich zum Check-up kommt. Das muntert ihn sichtlich auf.

Familie und Spital unterstützen gegenseitig
Sowieso ist es eine Freude, wie er mitunter vor Vergnügen kräht – wie vorhin beim Malen mit den Buntstiften während der Wartezeit. Aser hat ein unwiderstehliches Lachen, das für so einen kleinen Jungen erstaunlich rau klingt. Womöglich eine Folge der langen Zeit, in der er auf der Intensivstation künstlich beatmet wurde.

Aber in den Behandlungsraum mit dem rosa Elefanten, der die Untersuchungsliege wie eine Sänfte zu tragen scheint, mag er nun ganz und gar nicht. Aser sträubt sich nach Leibeskräften und greift dem Vater schluchzend in den Bart. Selbst von den lustigen Puppenvideos auf dem Handy seiner Mutter lässt sich Aser kaum ablenken.

Manchmal bleibt ihm die Spritze erspart, etwa weil der Magen gerade schmerzt. Dann wird die Kortison-Injektion um ein paar Tage verschoben. Aber sie muss sein. In all seinen Jahren als Pneumologe habe er noch nie einen solch schweren Fall von Asthma erlebt, meint Dr. Ra’fat Allawi, Asers behandelnder Arzt im Kinderspital Bethlehem. Gewöhnliche Inhalationen zur Abschwellung der Atemwege reichen da nicht aus. Die Kortison-Dosis, die Aser regelmässig erhält, ist gar zehnfach höher als regulär. «Das Problem mit Asthma ist», so der Arzt, «dass der Körper alles als fremd erkennt, Gras, Smog, sogar einen Mückenstich, und darauf allergisch reagiert.» In Asers Fall extrem heftig.

Aser gelangt noch rechtzeitig auf die Intensivstation
Besonders aggressive Erreger wie das Adeno-Virus oder RSV, die sich das Kind im ersten Lebensjahr eingefangen hatte, waren vermutlich die Auslöser. Reaktive Atemwegserkrankung, kurz RAD, lautete die Diagnose, als es erstmals mit sechs Monaten in das Kinderspital eingeliefert wurde. Das Atmen fiel ihm schwer, es keuchte und litt an Engegefühl auf der Brust.

Just an seinem ersten Geburtstag wird es richtig schlimm. Asers Mutter fällt auf, dass sich ihr Sohn kaum noch bewegt, und bringt ihn eilends ins Kinderspital. Doch seine Sauerstoffwerte sinken, sein Zustand verschlechtert sich dramatisch. Aser muss umgehend auf die Intensivstation verlegt und intubiert werden. «Die Entscheidung, ihn maschinell zu beatmen, war nicht leicht. Für ein Kleinkind ist dies ein massiver Eingriff», erinnert sich Dr. Ra‘fat. «Aber wir mussten es tun, sonst wäre er gestorben.»

Auch so war es ein tagelanger Kampf um Leben und Tod. Erst nach zwei Wochen trat eine Besserung ein. «Es schien wie ein Wunder», berichtet Dr. Ra’fat, derzeit der einzige pädiatrische Pneumologe in Palästina. Ein Wunder, das freilich nicht vom Himmel fiel. Chefärztin Hiyam Marzouqa nennt es «eine Erfolgsgeschichte für uns alle». Dass Aser gerettet wurde, hat viel mit der guten Ausstattung des Kinderspitals, der hohen Expertise des Personals und dem Teamgeist zu tun. Im Westjordanland gibt es wenig Intensivbetten für Kinder, das Kinderspital Bethlehem hat neun. Die Intensivstation ist beinahe ständig belegt, da immer wieder junge Patienten oder auch Frühgeburten hierher überwiesen werden.

Das Kinderspital verfügt über breite Expertise
«Wenn es um schwere, seltene Krankheiten geht», sagt Dr. Hiyam, «stechen wir raus. Weil wir dranbleiben, bis wir die Diagnose haben.» Fünf Fachärztinnen und Fachärzte und 13 Assistenzärzte arbeiten im Spital, dazu kommen einmal pro Woche konsiliarische Fachärztinnen und -ärzte. Wenn nötig werden Blutproben zur genetischen Untersuchung ins Medizinzentrum Tel HaShomer bei Tel Aviv oder nach Tübingen geschickt. «Unsere Stärke ist unsere Vernetzung», fügt die Chefärztin hinzu. Unverzichtbar, auch deshalb, weil man sich im von Israel ummauerten Bethlehem oft wie abgeschnitten von der Aussenwelt fühlt. «Wir wollen, dass auch palästinensische Kinder eine bestmögliche Behandlung bekommen», betont sie. Ohne Spenden, die zu fast zwei Dritteln das Kinderspital finanzieren, wäre das nicht machbar.

Selbstzahler wie Asers Eltern, Rawan und Osama Khalifeh, die eine private Krankenversicherung haben, sind die grosse Ausnahme. Die Mutter, eine dezent geschminkte, gut aussehende Frau mit Kopftuch, arbeitet bei der Bank of Palestine, der Vater als Tierarzt mit eigener Praxis in Hebron. Er hat schon ungezählte Stunden im Internet recherchiert, um das Krankheitsbild RAD besser zu verstehen. Sogar nach Jordanien ist er gefahren und hat einen Spezialisten in Australien, wo seine Schwester lebt, telefonisch konsultiert. «Wir wollten eine zweite Meinung», sagt Asers Vater unumwunden. Was er dabei erfuhr, hat ihn bestärkt, sein volles Vertrauen in Dr. Ra’fat zu setzen. Den Arzt aus Bethlehem, der sich nach seinem Medizinstudium an palästinensischen und israelischen Universitätskliniken auf Lungenkrankheiten spezialisiert hat.

Aser hüpft bereits wieder durch den bunten Flur des Spitals, als die Erwachsenen noch diskutieren. Vor allem die hohe Kortison-Dosis macht dem Vater Sorgen. Im neuen Jahr, spätestens im nächsten Sommer, könne man hoffentlich beginnen, sie zu senken, macht Dr. Ra’fat den Eltern Mut. Denn die Steroide, die Asers Immunsystem ruhigstellen, begünstigen gleichzeitig aggressives Verhalten.

Das Leben mit Asthma bestimme den Alltag der Familie
In der Kinderkrippe, erzählt Mutter Rawan, wollte man so ein Problemkind erst gar nicht. Inzwischen geht Aser hin, zusammen mit seinem Zwillingsbruder Adam. Ein gesunder aufgeweckter Junge, der in der kognitiven Entwicklung voraus ist und anders als Aser schon spricht. Aber all die Extraportion an Aufmerksamkeit und Zuwendung, die sein Zwillingsbruder bekommt, ist für Adam nicht immer leicht zu verstehen.

Asers Krankheit dominiert die gesamte familiäre Morgen- und Abendroutine. Manchmal ist das selbst seiner älteren Schwester, die sich oft um die Brüder kümmert, zu viel. Neben den Medikamenten braucht Aser mindestens zweimal pro Tag das Asthma-Spray und viermal die Sauerstoffmaske. Bisweilen noch öfter, wenn er nach zu schnellem Essen oder Rennen um Luft ringt. Aser lebt unter ständiger Aufsicht. Selbst in der Nacht kontrollieren die Eltern noch den Sauerstoffgehalt in seinem Blut.

Beim Hausbesuch am Nachmittag mit der Sozialarbeiterin Hazar Barham liegt Aser unter der Sauerstoffmaske auf der Couch. Die Khalifehs, die aus palästinensischen Flüchtlingsfamilien stammen, wohnen in Doha, einem Neubauviertel in Bethlehem mit modernen sechs- bis achtstöckigen Häusern. Gegenüber befindet sich das Flüchtlingslager Deheishe, wo auch Mutter Rawan aufgewachsen ist. Das neue Apartment hat Aufzug und Klimaanlage, was den Alltag mit einem asthmakranken Kind erleichtert.

Auch zu Hause erhält die Familie Unterstützung
Mit einem Auge auf die Zwillinge, die mit ihren Spielklötzchen beschäftigt sind, schildert Rawan ihre Ängste. Vor allem während jener 17 Tage, die Aser als fiebriges Bündel Elend auf der Intensivstation lag. In dieser Zeit war Rawan direkt nebenan in der Mütterabteilung untergebracht, in der Mütter von hospitalisierten Kindern übernachten können. «Für mich das Beste überhaupt», sagt sie. «Ich musste nur die Tür öffnen und war meinem Sohn nahe.»

Die emotionale Unterstützung von Sozialarbeiterin Hazar half ihr ebenfalls, die kritische Zeit durchzustehen. Ein Kontakt, der andauert, zumal Aser besonders anfällig für Infekte ist und mehrfach wegen Bronchitis oder auch Lungenentzündung ins Kinderspital musste. Seiner Mutter Rawan ist allzu bewusst, «dass jeden Moment etwas passieren kann. Aber es ist ein beruhigendes Gefühl zu wissen, in kurzer Zeit in guten Händen zu sein.»

Nicht zuletzt gibt ihr die Prognose von Dr. Ra’fat Anlass zur Hoffnung. «Leicht wird es nicht», glaubt er. Inhalationsmittel werde Aser auch als Erwachsener brauchen. «Aber er wird ein normales Leben führen können.»

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