«Stehenbleiben ist keine Option»

«Stehenbleiben ist keine Option»


Blickpunkt Bethlehem, Nr. 65 - Interview

Foto: © Meinrad Schade

Seit 70 Jahren rettet das Kinderspital in Bethlehem Leben. Schon fast die Hälfte dieser Zeit ist Dr. Hiyam Marzouqa dort tätig und hat als Chefärztin die Entwicklung des Spitals massgeblich geprägt. Der Auftrag des Kinderspitals bleibt für sie weiterhin aktuell. 

Können Sie sich noch an Ihren ersten Tag im Caritas Baby Hospital erinnern?

Ja, das war im Jahr 1990. Ich erinnere mich gut daran, dass ich direkt zur Morgenversammlung des Ärzteteams gekommen bin. Wir haben über neue Fälle diskutiert und
ich wurde sofort voll eingesetzt. Es war, als würde ich ins kalte Wasser geworfen.

Was hat sich seitdem bei den Krankheitsbildern verändert?

Früher hatten wir viele unterernährte Kinder, bei denen die Knochen spitz unter der Haut hervortraten. Auch hatte ich den Eindruck, dass Mädchen gegenüber Buben immer etwas vernachlässigt wurden. Das hat sich jedoch geändert, vielleicht weil so viel mehr Frauen eine Schulbildung haben und Informationen aus den Medien erhalten. Auch wollten die Eltern ihre Kinder früher oft bei uns lassen, da es ihnen hier viel besser ging als zu Hause. Im Spital gab es immer genügend zu essen und im Winter wurde geheizt. Inzwischen haben wir praktisch keine Kinder mehr mit Unterkühlungen.

Was ist in den vergangenen Jahrzehnten gleich geblieben?

Früher wie heute: Wir sind für alle Kinder da, egal woher sie kommen und aus welchen Familien. Wir stellen seit jeher das Wohl von Kind und Mutter ins Zentrum. Ansonsten hat sich viel verändert, und das ist auch gut so. Man sollte nie stehen bleiben, sonst fällt man zurück. Deswegen spreche ich lieber von den Fortschritten, die gemacht wurden, denn unser medizinisches Angebot hat sich in den vergangen Jahrzehnten enorm verbessert. So hatten wir früher zum Beispiel keine Intensivmedizin und konnten kritische Fälle nicht behandeln.

Worauf sind Sie besonders stolz?

Wir behandeln ganzheitlich, stellen das Kind in den Mittelpunkt, haben eine ausgezeichnete Hygiene und betreiben Qualitätssicherung. Die Kinder werden sehr respektvoll
angesprochen und behandelt. Wir konnten das Spital bei der Weltgesundheitsorganisation WHO zertifizieren und haben die höchste Stufe bei der Patientensicherheit
erreicht.

Was würden Sie jungen Ärztinnen und Ärzten raten?

Die richtige Einstellung ist wichtig. Ich sage ihnen, dass sie Geduld und Empathie entwickeln müssen, gerade bei der Behandlung von Kindern mit Behinderungen.
Diese Kinder verstehen viel mehr als man denkt. Und: die neuen Ärztinnen und Ärzte müssen lesen, lernen, analysieren. Ich erwarte von ihnen nach einem Jahr, dass sie
sich sehr viel Wissen angeeignet haben. Auch hier gilt: Stehenbleiben ist keine Option.

Was wünschen Sie sich für das Spital in der Zukunft?

Dass wir uns als Institution mit Unterstützung des Vereins Kinderhilfe Bethlehem stets weiterentwickeln. Ich spüre bei meinen Vorträgen in Europa, wie stark die Solidarität für unser Spital ist. So viele Menschen tragen dazu bei. Auch hier dürfen wir nicht stehen bleiben, um die Gesundheitsversorgung für palästinensische Kinder gemeinsam zu verbessern. Dafür bin ich den Spenderinnen und Spendern sehr dankbar.

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